Andreas Fuhrer

Erzählungen und Gedanken eines Bergführers

Leseproben:
  1. Ein Glückstag
  2. Ohne Abschied
  3. Modetour
  4. Der alte Führer
  5. Absturz
  6. Himmelsleiter
  7. Hüttengespräch

Ein Glückstag

Die letzte Steigung der endlos scheinenden Moräne geht in die Waden. Ich verlangsame den Schritt. Meine Kundin ist stehen geblieben, verschnauft etwas, lächelt. Sie lächelt fast immer, selbst wenn sie erschöpft ist oder nachdenklich. Manchmal bin ich ungeduldig, möchte etwas sagen, schimpfen. Doch sie lächelt. Und dann lasse ich das.

Natürlich bin ich wieder mal zu schnell gegangen in meiner Euphorie, vergesse dass die Kunden nicht jeden Tag in den Bergen auf- und ablaufen wie die Gemsen. Gewohnt, die öden Etappen des Hüttenweges möglichst schnell hinter sich zu bringen, rennen wir Führer oft in blödsinnigem Tempo bergauf und, schlimmer, in noch viel blödsinnigerem Tempo bergab, der Schwerkraft spottend. Dabei sind Hüttenaufstiege oftmals eine Zeitreise. Immer wenn ich zusammen mit einem Kunden hochsteige, kann ich unendlich viele Schönheiten der Natur entdecken, an denen ich sonst achtlos vorbeirenne.

Die Aufstiege lassen schon nach wenigen Minuten die Zivilisation zurück, Menschengeschrei und Autolärm klingen nur noch dumpf aus der brütenden Hitze der Täler, unsere Blicke richten sich nach der Höhe und nach den schneebedeckten Gipfeln. Zu Beginn spendet der dichte Bergwald angenehm kühlen Schatten, erleichtert uns das Steigen. Wir erreichen die Baumgrenze. Letzte Bäumchen, in stetigem Kampf mit der Unbill der rauen Natur, ausgesetzt den stürmischen Winden, alljährlich niedergedrückt durch Lawinen, verletzt durch Steinschlag, richten sie sich jeden Frühling mit neuem Mut wieder auf. Es wird heiss, die Luft flimmert in der Mittagshitze, doch welch ein Blick öffnet sich uns. Hohe Gipfel und riesige Gletscher grüssen herab, sie scheinen uns einzuladen. Die Vegetation wird karger, Steine lösen die Graswiesen ab, ein glasklarer Bergbach sprudelt in wilden Sätzen über die Felsstufen und kreuzt ein letztes Mal unseren Weg.

Ein gellender Pfiff warnt vor den Störefrieden, wir befinden uns endgültig in der Hoheit der Steinböcke, der Adler und der Murmeltiere. Nun beginnen die Moränen, riesige Überbleibsel aus Zeiten, in denen die Gletscher noch weit vorgestossen sind, wie von Zyklopenhand erbaut und als einsame schmutzige Ruinen zurückgelassen. Drückend reflektiert die Hitze am dunklen Geröll, selbst die Gletscherzungen, die verstohlen hinter der nächsten Wegbiegung hervorschauen, scheinen zu schwitzen und sich unter dem Schutt der stetigen Erosion zu verkriechen. Der Bach murmelt nun schon tief unter uns, widerhallt an schroffen Felswänden, während uns der Moränenrücken weiter trägt ins Reich des Hochgebirges, das Reich des ewigen Eises, des ganzjährigen Schnees, dem Reich der Winde und der Gestirne. Wir machen eine kleine Pause, trinken, schauen, staunen. Ich zeige meiner Kundin die letzten Polsterpflanzen, unendlich zarte Wesen, der Natur trotzend, die letzen auf fast dreitausend Metern Höhe.

Ich schalte noch einen Gang zurück, der Rucksack drückt ins Kreuz, die Beine ermüden in diesem weglosen Gelände. Die ersten Firnfelder tauchen auf, nun ist es nicht mehr weit. Der Schnee ist weich, es genügt, gute Stufen zu treten. Sie folgt tapfer, stellt ihre Füsse in meine Tritte, lächelt.

Endlich die Hütte, kleiner Adlerhorst inmitten dieser Fels- und Eiswüste. Unzählige Male war ich schon hier oben, oft hab ich dich verwünscht, wenn du gerammelt voll mit schreienden Bergsteigern warst, vielmals aber auch herbeigesehnt, wenn ich nach langer Tour noch den weiten Aufstieg zu Dir machen musste, gepriesen wenn du uns Schutz gewährtest vor den Grausamkeiten des Wetters. Im Moment ist es noch ruhig um deine Hausecken, wenig Leute sind da, der Rauch des Kamins verflattert im Gutwetterwind. Einige Bergsteiger stehen auf der Terrasse, mustern uns Ankömmlinge, abschätzend, abwartend. Ich grüsse, einige erwidern meinen Gruss, andere glotzen nur. Stadtmenschen. Sichtlich müde hat sich meine Kundin niedergesetzt auf die Steintreppe, froh endlich hier zu sein. Ich frage das Hüttenmädchen nach dem Wirt.

„Schläft noch,“ sagt sie.

Verständlich, jeden Tag um drei aufzustehen ist hart. Dann bringe ich meiner Kundin etwas zu trinken und ein paar weiche Pantoffeln. Sie hat sich die Schuhe ausgezogen, ich wundere mich immer, wie man rücksichtslos derart zarte Füsse von den derben Bergschuhen malträtieren lassen kann, betrachtet ihre Blasen.

„Schlimm?“

„Nein, nein, das Übliche, da hinter dem Knöchel.“ Sie ist hart im Nehmen.

„Lass sie etwas an der Sonne trocknen bevor du in die Pantoffeln gehst.“

„Mmmh.“ Sie trinkt, sie bedankt sich nicht, aber sie lächelt, was braucht es mehr?

Ich setze mich neben sie. Schweigen. Wunderbarer Ausblick. Endlose Weite. Es braucht keine Worte. Sie redet nicht viel, das ist angenehm.

„Wir sollten Deine Steigeisen noch kontrollieren.“

„Die passen schon.“

„Trotzdem.“ Ich weiss, wenn die Steigeisen morgen früh vom Schuh fliegen, werde ich grantig. Also lieber jetzt.

Die Rast hat gut getan.

„Magst du, dass ich dir den Weg zeige wo wir morgen gehen?“

„Oh ja.“ Sie lächelt.

Wir gehen ein Stück des morgigen Weges, bis man die Route fast ganz einsehen kann. Mit dem Fernglas schaue ich mir die Route an, der Gletscher scheint schon ziemlich offen, kein Wunder in diesem Hitzesommer. Oben am Grat schimmert es teilweise grau, Blankeisstellen. Die Felspartien sind trocken. Insgesamt sind die Verhältnisse günstig. Doch der Blick nach Westen beunruhigt mich, die hohen Zirren, eine ferne, aber kompakte Wolkenbank. Ich erwähne nichts von meinen Gedanken. Der Sonnenuntergang fällt kurz aus, erste Wolken schieben sich davor. Sie fröstelt.

„Lass uns reingehen, packen. Es gibt eh bald Essen.“

Essen und Trinken sind durch das Übermass an Angeboten im Tal zur Selbstverständlichkeit geworden. Hier oben lernt man den Wert einer Mahlzeit doppelt schätzen. Nach einer harten Tour eine einfache Suppe, welch kulinarischer Höhenflug, welche Freude. Ein Königreich für ein Bier.

Ah, jetzt ist Albert der Hüttenwart aufgestanden und rührt fleissig in seinen Riesentöpfen. Als junger Führer hast du viele grosse Touren gemacht, du warst einer der Besten. Bald hattest du aber Probleme mit deinen Knien. Du hast gelitten, Tour für Tour, mit Stöcken, verbissen. Eines Tages wurde der Leidensdruck zu gross. Schweren Herzens gabst du deinen geliebten Beruf auf. Was dich das an Herzblut gekostet haben mag, weisst nur du alleine. Du hast nie darüber gesprochen. Jetzt bist du ein guter Hüttenwirt geworden, manchmal etwas mürrisch, aber nie bösartig. Deine Ratschläge sind immer noch wertvoll, auch wenn du nicht mehr selbst auf den Gipfeln stehst.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich als junger Führer zum ersten Mal in deine Hütte kam. Natürlich musste ich in möglichst kurzer Zeit den Weg hinauf rennen. Persönliche Rekorde bedeuten einem viel in diesen Sturmjahren. Kurz vor dem Abendessen bin ich verschwitzt in den Aufenthaltsraum gestolpert.

„So, so. Du bist also der Führer für den Holländer?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Du streiftest  mich mit einem kurzen, forschenden Blick. Ich konnte deine Gedanken nicht sofort erraten.

„Bist wohl gerannt?“

„Eineinhalb Stunden“ sage ich mit Stolz. Ich wusste im selben Augenblick, wie lächerlich mein Geprahle war. Entsprechend knallte deine Antwort:
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Ohne Abschied

Karl kommt aus Deutschland und gehört seit kurzem zu meinen Gästen. Auf den ersten Blick sieht er überhaupt nicht wie ein Bergsteiger aus. Meistens ist er sehr blass, nur nach ein paar Tagen im Gebirge kriegt er etwas Farbe. Er ist eher schmächtig und feingliedrig. Konzertpianist. Spricht mit ruhiger, leiser Stimme, feinfühlig wie seine Musik. Doch am Berg erfährt sein eher zartes Wesen eine gewaltige Veränderung. Immer wieder kann ich seinen festen Willen bewundern und seine Ausdauer versetzt mich oft in Erstaunen. Karl ist ein grosser Liebhaber von langen, einsamen Touren. Stille abgelegene Wege bedeuten ihm viel mehr als klingende Gipfelnamen. 

Es ist Ende September. Auf den Viertausendern reicht der Schnee schon weit herab, der Unterschied zwischen Sonnen- und Schattenseite ist gross. Während in den Nordflanken schon winterliche Verhältnisse herrschen, ist es an sonnigen Südwänden noch angenehm warm. Wir haben einen langen Aufstieg gewählt, den Weg durch das wildromantische Baltschiedertal. Entlang der hölzernen Wasserleitungen kommen wir zu den blökenden Schafherden welche noch die letzten Spätsommertage geniessen. Voll freudiger Erwartung steigen wir höher, den Hochalpen entgegen. Am Schluss führt ein steiler Steig, zum Teil mit Seilen versichert durch eine enge Schlucht hinauf zu unserem Ziel, der Biwakschachtel am Fuss des Stockhorngrates. Nur wenige Kunden sind bereit, den langen Aufstieg mit den schweren Rucksäcken auf sich zu nehmen, um sich am anderen Tag mit einer schweren Klettertour in einer der abgeschiedensten Ecken unserer Alpen zu messen. 

Wir beide haben uns am Mittellegigrat kennen gelernt.

Du warst damals am Seil eines anderen Führers. Du wolltest den Tag geniessen, es war dein fünfzigster Geburtstag. Du wolltest die grandiose Arena rund um das  Eismeer bestaunen, ab und zu ein Foto machen, die Schönheiten dieser schmalen Gratschneide erkunden. Doch deinem Begleiter brannte die Zeit unter den Nägeln. Kaum auf einem der unzähligen Türme angelangt, zog er wie ein Stier am Seil und schrie immer wieder, es gehe einfach zu langsam das Ganze. Auf deine Fragen kam nur ein mutzes „keine Zeit“ und schon war er wieder ein paar Meter über dir.  

Kurz vor dem Gipfel habt ihr uns überholt. Ich war mit meinem betagten Kunden unterwegs und deshalb früh, noch in der Dunkelheit von der Hütte aufgebrochen. Er braucht mittlerweile ein bisschen länger, aber diese Zeit gönne ich ihm gerne. Während über zwanzig Jahren habe ich mit ihm im ganzen Alpengebiet Touren gemacht. Jetzt ist er siebzig, und Wettrennen am Berg sind ihm ein Greuel. Mir übrigens auch.  

Triumphierend zog der jüngere Führer an uns vorbei, grüsste kaum. Dir, Karl, half ich noch den Mastwurf am Stand zu lösen, während der oben schon wieder brüllte, was denn da unten eigentlich los sei. Am Gipfel waren wir dann noch kurz zusammen. Ich habe die stille Zufriedenheit vermisst, die einen oft befällt nach einem gelungenen Aufstieg. Euer Gespräch war sehr einsilbig. Missmutig verzehrte dein Führer sein Sandwich und brummte etwas von „Ewigkeit gedauert“.

Ich sah es dir an dass du enttäuscht warst. So hattest du dir den Eiger nicht vorgestellt. 

Es hat mich dann sehr gefreut, als du mich ein paar Tage später angerufen hast, ob ich mit dir eine einsame Kletterei im Hochgebirge machen würde. Gern habe ich zugesagt. Ich habe nicht lange überlegen müssen. 
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Modetour

Der Parkplatz ist zum Bersten voll, es herrscht ein Heidenlärm. Touristen schreien herum, zücken Fotoapparate. Die meisten von ihnen stecken in bergsportlicher Kleidung, ist ja im Trend. Alle sehr sauber.

Da bin ich etwas Aussenseiter. Die Schuhe wurden seit Tagen nicht mehr geschmiert, und die Bartstoppeln erreichen bald eine schwer zumutbare Länge. In den vergangenen Tagen war ich am Roseg, dann die Scersen-Benina Traverse und heute noch am Palü. Lange, erlebnisreiche, aber strenge Tage. Morgen steht der Bianco auf dem Programm. Ich suche meinen Gast in der Menschenmenge. Nichts zu sehen. Er ist immer und überall verspätet obwohl er ständig rennt.

Da, auf einmal: quietschende Reifen und zorniges Gehupe. Ein Offroader neuester Generation klemmt sich gerade noch in die letzte freie Parklücke.

Fredi.

Er springt aus dem Auto, gleicht einem gehetzten Tier. Seine bunte Krawatte hängt schief, sein Haar ist wirr gerauft. Mich wundert bloss dass er nicht noch das Stethoskop um den Hals hat.

„Hallo, bin etwas verspätet. Scheissampeln am Julier.“

„Salü Fredi. Wie geht’s?“

„Gut, gut. Die Arbeit halt. Habe bis heut morgen nicht gewusst ob ich überhaupt kommen kann.“

Fredi war früher ein guter Alpinist. Jetzt fehlt ihm das Training. Sein Ehrgeiz ist aber ungebrochen.

Er wechselt die Kleider. Thermounterwäsche. Softshell. Gore-tex 3-Lagig. Camel-pack zum Trinken während des Laufens. Ein halbes Sportgeschäft liegt in seinem Kofferraum.

„Wie lange zur Hütte?“

„Drei Stunden.“

„Schaffen wir in zweieinhalb, wär' ja gelacht.“

Er verbreitet amerikanischen Optimismus. Yes, we can!

Ich mag nicht streiten.

Im Moment ist er immer noch Chefarzt, zwar schon in Bergsteigerkluft, aber immer noch Chef. Macho und Alleswisser. Ich kenne das. Das dauert noch ein paar Stunden bis zur angenäherten Normalisierung. ......
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Der alte Führer

Ein heisser Augusttag im Val d`Hérens. Wochenlang habe ich fast jeden Tag auf einem der vielen Gipfel der Umgebung verbracht. Strenge, ermüdende, aber reich erfüllte Tage. 

August. Das ist die Zeit, wo der Bergführer in Hochform ist. Hohlwangig und hager wie ein Wolf, etwas im Hintertreffen mit dem Schlaf, aber jede Faser seines Körpers ist jetzt durchtrainiert. Stundelang kann er bergauf rennen als hätte er eine Pferdelunge, er schleppt die schwersten Rucksäcke ohne zu ermüden. Das Klettern an scharfen Graten ist ihm eine Freude, je ausgesetzter desto lieber.

Er rast nach strenger Tour die Hüttenwege hinab, wechselt kurz seine Kleider und ist nur wenige Minuten später wieder im Aufstieg zur nächsten Cabane. Ermüdung kennt er kaum, nach einem harten Tag isst und trinkt er etwas, legt sich ein paar Stunden auf die einfache Matratze und erwacht noch lange vor der Morgendämmerung, um erfrischt sein neues Tagwerk zu beginnen. 

Sternstunden der körperlichen Hochform. Augenblicke der Unverletzlichkeit. Wie gefährlich aber können diese Sternstunden sein. In der Überzeugung, die ewige Jugend zu besitzen, spottet er dem Raubbau des Körpers und hört nur ungern auf die warnenden Stimmen der älteren Führer. 

Wir steigen auf zur Cabane Rossier. Mit grossen Schritten und leichtem Atem gewinnen wir schnell an Höhe ohne zu hetzen. Wir plaudern dazu, scherzen. Meine Gedanken wandern ein paar Wochen zurück, zu den ersten Aufstiegen der Saison.  

Nach den letzten Skitouren im Frühjahr hat man sich ein bisschen zurückgelehnt, seine Seele baumeln lassen, war höchstens ein bisschen im Klettergarten. Dann die erste Hochtour. Gleich auf den Grand Combin. Das hat mich einige Überwindung gekostet. Die dünne Luft machte den Lungen zu schaffen, das Atmen fiel schwer. Die Waden, verkümmert während der langen Monate in den Skischuhen, schmerzten beim steilen Aufstieg auf den Frontzacken. Die Rucksackriemen schnitten tief in die schmaler gewordenen Schultern, die Nackenmuskeln schmerzten. Den langen Abstieg nach Bour St. Pierre ist mir ordentlich in die Knie gefahren und abends im Tal war ich ziemlich erledigt, einen Sonnenbrand auf der Nase, schmerzende Zehennägel. 

Doch mit jedem Aufstieg ging es leichter, die Waden wuchsen zu Kaninchenbäuchen, der Gürtel konnte alle paar Tage etwas enger geschnallt werden und die dünne Höhenluft bekam einem immer besser. 

Kurz vor der Hütte überholen wir eine Führerpartie aus Evolène. „Ah, les jeunes. Vite, vite.“ Der alte Führer lacht.

Ich wage nicht, einfach „salut“ zu sagen. Ich kenne ihn aus verschiedenen Geschichten, die man von ihm erzählt. Sein Ruf als Meister seines Fachs begleitet ihn. Unzählige Erstbegehungen, viele schwere Rettungen und die Tatsache, dass er seit Jahrzehnten als Bergführer in allen Teilen der Welt tätig ist, zeichnen von überdurchschnittlichem Können. ......
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Absturz

Ich erwache und spüre ich eine grosse, alles durchdringende Kälte am ganzen Körper.

Schmerzen.

Ich liege einfach da. Bewegungslos. Dunkelheit.

Aus einer Unzahl von Schläuchen tropfen irgendwelche Flüssigkeiten in mich hinein. Krankenhausgeruch. Alles riecht nach Sauberkeit. Beim Versuch, mich auf die Seite zu drehen, brauche ich eine Viertelstunde um zu kapieren, dass es unmöglich ist. In mir scheint alles zu scherbeln. Selbst meine Gedanken. Die Nachtschwester fragt etwas. Ich mag niemanden sehen.

Schmerzen. Spritzen dagegen. Langsames Wegdämmern. 

Der Tag hat gut angefangen.

Nach einer bitterkalten Februarnacht stehen wir, dick angezogen, am Parkplatz. Wir sortieren unser Material. Schon an zwei Wochenenden haben wir zusammen trainiert. Jetzt wird’s Zeit für etwas Gröberes. Mein junger Begleiter ist begeistert von der Materie Eis. Im Moment steigt er meist nach, fühlt sich noch nicht so sicher als Seilerster. Die Verantwortung liegt bei mir. Ich zeige ihm die frisch präparierten Pickel.

„Hast du auch einen Waffenschein für die Dinger?“

„Bei den tiefen Temperaturen ist das Eis hart und splittrig. Du wirst froh sein über die scharfen Klingen.“

Die Rucksäcke werden trotz sorgfältigem Packen sauschwer. Dann wühlen wir uns durch knietiefen Pulverschnee hinauf zum Einstieg unseres Eisfalls. Wenigstens wird uns warm dabei.

Einstieg.

Es sind ungefähr fünf Seillangen. Der Anfang ist recht human, dann wird es steil, und die Schlüssellänge kommt gegen den Schluss. Meist fragwürdige Eisqualität und absolut senkrecht.

„Seil, gib Seil!“

„Stand.“

„Nachkommen!“

Am Anfang ist man immer etwas ungelenk, zögert, verbraucht unnötige Kraft.

Das Eis ist heute wie Glas. Seit Wochen haben wir diese sibirische Kälte. Nicht optimal für unser Vorhaben. Mehrmals muss ich das Eisgerät nachschlagen. Tellergrosse Eisplatten spalten sich ab. Zweimal. Dreimal. Endlich hält der Eishammer.

Alle paar Meter setze ich eine Sicherungsschraube.....
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Himmelsleiter

Wir haben uns zum ersten Mal getroffen, als ich an einem nebligen, nasskalten Nachmittag, spät im August, aufgrund des Wetters ohne grossen Auftrieb zur Glecksteinhütte hinaufstieg, mit wenig Aussichten auf einen Gipfelerfolg am folgenden Tag. 

Eine mühsame Woche lag hinter mir. Dabei hatte ich alles so gut geplant gehabt. Start über den Rottalgrat zur Jungfrau. Weiter zur Konkordiahütte, anderentags Traversierung des Aletschhorns und Abstieg ins sonnenverwöhnte Wallis, wo man sich gerne nach harten Tourentagen an einem Gläschen kühlen Fendant erfrischt und in schönen Erinnerungen schwelgt.

Stattdessen hatten wir mit nassem, klebrigem Schnee zu kämpfen gehabt. Mühsam war das Steigen in dem zähen Brei gewesen, und Aussicht von den Gipfeln hatte es überhaupt keine gegeben. Entsprechend war die Stimmung auch gedrückt gewesen, meine treuen Gäste hatten sich die Tourenwoche im Festsaal der Alpen natürlich anders vorgestellt. Nichts war aus unseren geschmiedeten Plänen geworden, wir hatten schliesslich froh sein müssen, ende der Woche noch den Normalweg auf den Mönch in Angriff nehmen zu können. Unlustig und mühsam hatten wir uns durch die dicke Nebelsuppe aufwärts gekämpft. Das Gipfelfoto hätte man ebenso vor einem weissen Garagentor machen können. Kein Anzeichen von blauem Himmel weit und breit. 

Am nächsten Tag wollte ein Kunde das Wetterhorn besteigen. Vermutlich würde wieder nichts daraus werden. Der Neuschnee reichte weit hinab, fast bis zur Hütte, die Nebelschwaden zogen unaufhörlich durch das Tal herauf und entleerten sich in regelmässigen Abständen in Form eines trägen englischen Landregens.

Derart in Gedanken versunken stieg ich die glitschigen Steinplatten hinauf, vorbei an wassertriefenden Legföhren, ständig ganzen Horden von Regenmolchen ausweichend. Ein paar Gemsen schreckten auf, rasten scheu davon. Kein gutes Zeichen, wenn sich die Tiere um diese Jahreszeit in diesen tiefen Lagen aufhalten. Durch den dichten Nebel hörte ich das Geräusch eines Bergstocks.

Tack. Tack.

Also war doch noch irgendein anderer Spinner unterwegs. Der Nebel hob sich kurz und ich sah, ein paar Wegkehren über mir, einen einzelnen Bergwanderer absteigen. Er hatte einen eigenartig schleppenden Gang, stützte sich bei jedem Schritt so gut es ging mit seinem Bergstock ab und er sang. Er sang leise, aber inbrünstig.

Wie kann man auch singen bei dem Sauwetter, dachte ich für mich. Selber war ich nicht gerade in bester Laune.

Dann standen wir uns unvermittelt gegenüber. Eine etwas sonderbare Erscheinung. Sein linker Fuss steckte in einem Spezialschuh und der linke Ärmel seiner Jacke hing leer herab. Den Stock führte er mit der rechten Hand.

„Hallo, guten Tag junger Mann. Schön, hier oben jemandem zu begegnen!“

Was sollte das Schöne daran sein? Dachte ich für mich und grüsste zurück.

„Guten Tag.“

„Ach, sie steigen zur Hütte hinauf? Eine Tour morgen? Sie sind ein Glückspilz!“

Ich wollte gerade einwerfen, dass sich meine freudigen Erwartungen für morgen doch sehr in Grenzen hielten, da schwärmte er schon weiter:

„Vielleicht aufs Wetterhorn? Wie ich sie beneide!“

Ich schüttelte die Wassertropfen von meinem Hut.....
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Hüttengespräch

Ich sitze auf der Terrasse der Rothornhütte, wohlbehalten zurück von der Traversierung des Obergabelhorns.

Ein erfüllter Tag liegt hinter uns. Noch in tiefer Dunkelheit waren wir von der Cabane du Mountet aufgebrochen und haben die direkte Nordwand des Obergabelhorns durchstiegen. Wir hatten das Glück, ausserordentlich gute Firnverhältnisse anzutreffen, so dass wir den Gipfel schon früh am Vormittag erreichten. Der Abstieg über den ausgesetzten Grat hinunter zur Wellenkuppe machte uns kaum Schwierigkeiten und führte uns schliesslich hierher.

Die Kundin war von der Tour doch ziemlich müde und wollte sich etwas niederlegen. Eine gute Gelegenheit für mich, den Nachmittag allein zu geniessen. Es ist hier zwar nicht gerade die Piazza Grande mit Gelati und Capuccino, aber ein Riesenteller Rösti und ein grosses Bier genügen, um meine körperlichen und seelischen weitgehend zufrieden zu stellen. Ich schaue hinab ins Trift, dem Hüttenweg entlang, der sich in unzähligen Kehren die Moräne herauf windet.

Eine schlanke Gestalt steigt schnell höher, mit langen Schritten, gebeugt unter einem grossen Rucksack, den Pickel in der Hand. Ein Bergführerkollege. Ich kenne ihn.

Minuten später tritt er auf die Terrasse. Ich stehe auf.

„Salut Michel.“

Ein ehemaliger Schüler von mir. Ich freue mich, ihn hier zu sehen. Er wischt sich den Schweiss von der Stirn. Lacht. Wir hatten immer ein gutes Verhältnis gehabt zueinander. Ich mag seine offene, ehrliche Art.

„Salut Res. Schön dich zu sehen!“

Seine dunklen Augen leuchten. Seine braungebrannten, sehnigen Arme und seine muskulösen Waden zeigen, dass er viel unterwegs ist. Er ist in Bestform.

„Lange nicht gesehen.“

„Ja, obwohl wir ständig unterwegs und auf den Hütten sind.“ 

Bergführer zu werden war schon früh dein Jugendtraum. Ungeduldig hast du gewartet um die Ausbildung anzufangen. Dein Vater, selbst Bergführer aus dem Val d’Entremont,  hat dich immer gemahnt, nicht zu früh in den Kurs zu gehen. Technisch warst du schon lange gut genug. Aber um Führen zu können, hattest du noch viel zu lernen.

Am Ende der harten Ausbildung kamst du für die Prüfungswoche in meine Klasse. Du warst selbstbewusst aber höflich, zurückhaltend und abwartend, wie dein Vater. Aufmerksam hast du zugehört, wenn ich etwas erklärte. Selbst wenn du viele Manöver schon kanntest, hast du fleissig nochmals geübt. Technisch konnte ich dir nicht mehr viel beibringen. Du warst ein guter Skifahrer und ein brillanter Kletterer. Es waren Kleinigkeiten, die ich dir noch mitgeben konnte. Der letzte Schliff.....
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© 2009 Andreas Fuhrer
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